Dies sind meine Gedanken zu dem Märchen
Fundevogel

In dem Märchen Fundevogel begegnen wir als erstes einem Förster.
Der Förster ist ein Mensch, der in seinem Beruf die Natur im Wald pflegt und erhält. Dazu gehört auch, dass er töten muss,- er geht auf die Jagd. Der Wald steht symbolisch für das Unbewusste. „Der Mensch findet im Wald Nahrung, doch zugleich einen Zugang zum Jenseits, der Anderswelt.“ (Leonhard Reiter, 2014).
Der Förster scheint sich in dieser unbewussten Welt auszukennen, denn er hört sofort, dass ein unbekanntes Geräusch ertönt, das nicht zum Walde passt: „Da hörte er`s Schreien, als ob`s ein kleines Kind wäre.“ Eine Mutter war zuvor mit ihrem Kind im Schoß eingeschlafen. Sie ist völlig unbewusst und nimmt nicht wahr, was um sie herum im Wald vorgeht. Es kommt ein Vogel, Symbol für Intuition, das freie Spiel der Phantasie. „Vögel sind weiter ein Symbol für die kommende Autonomie und Freiheit des Protagonisten, für die Fähigkeit, sich im Flug einen Überblick über die Situation zu verschaffen, in der sie sich befinden.“ (L. Reiter, 2014) Im Märchen ist es ein Raubvogel, also ein sehr starker Vogel, der aber das Kind nicht verletzt, sondern es mit seinem Schnabel wegnimmt und es auf einen hohen Baum setzt. Er bringt es geradezu aus dem Dunkel des Unbewussten zum Licht, in einen hohen geistigen Bereich zwischen Himmel und Erde. Es scheint ein ganz besonderes Kind zu sein, aber es wird viel zu früh der Mutter entrissen, die es auch nicht wiederfindet, vielleicht gar nicht mehr wahrnehmen kann in dem Bereich, wo es jetzt ist. Sie hat die taktile Verbundenheit, die unmittelbarste aller Wahrnehmungsarten, zu ihrem Kinde verloren. Sie wird nie wieder im Märchen erwähnt.
So kommt dieses Kind, das auf dem Baume hilflos schreit, in die Obhut des Försters. Der holt es wieder herunter, bringt es zurück auf den Erdboden und denkt: „Du willst das Kind mit nach Hause nehmen, und mit deinem Lenchen zusammen aufziehen.“ Dass der Förster sich selbst mit „du“ anspricht, wirkt so, als ob er von außen eine Stimme vernimmt, die ihm diesen Auftrag gibt. Er handelt nicht im Sinne von „Ich will“, sondern folgt den Naturgesetzen, mit denen er tief verbunden ist. So wie er ein verletztes Rehkitz mit anderen Rehen halten würde, muss er das verlassene Menschenkind eben mit seinem eigenen Kind zusammentun. Später im Märchen wird deutlich, dass er ein eigenständiges, wirkliches Interesse nur für sein eigen Fleisch und Blut hat, was auch einem Naturgesetz entspricht. Diese „Du“ Anrede zu sich selbst erinnert auch an gängige Filmdarstellungen von Indianern, die sich sich selbst mit dem Namen ansprechen und nicht mit „Ich“.
Das gefundene Kind bekommt im neuen Heim auch einen Indianernamen, nach dem, was ihm widerfahren ist : Fundevogel. Es ist gefunden worden, also heimatlos und es hat Vogeleigenschaften kennengelernt.
Nun findet es in Lenchen eine neue Heimat. Eine Heimat in der gegenseitigen Liebe: „Fundevogel und Lenchen hatten einander so lieb, nein so lieb, dass wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.“
Ein Bild voller Harmonie und Innigkeit, wie es in der Welt nur selten besteht. Und so naht schon die Zerstörung: „Der Förster hatte aber eine alte Köchin“ , er hat keine Frau, und so sind die Kinder auch verbunden durch das Schicksal der Mutterlosigkeit.
Die Köchin ist alt, sie steht vielleicht auch für althergebrachte Prinzipien, die überholt sind und überwunden werden müssen. Aber sie ist auch eine Köchin, eine nährende, die dazu beiträgt, dass die Kinder groß werden. Erst als er ein gewisses Alter erreichen, will sie Fundevogel vernichten. Wie alt sind die Kinder eigentlich? Es wird im Märchen nicht erwähnt. Man könnte denken, dass sie in die Pubertät kommen und daher Fundevogel durch Entfaltung eines eigenen Willens für die Köchin gefährlich wird. Er könnte ihr Lenchen wegnehmen, sie zur Frau begehren. Dementgegen steht aber meines Erachtens die äußerst kindlich bleibende Sprache mit vielen Wiederholungen und Beschreibungen von Rede und Gegenrede sowie alltäglicher Handlungen in sehr ausführlicher Form.
(z.B: „Wir wollen aber geschwind aufstehen, uns anziehen und zusammen fortgehen.“
Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich geschwind an und gingen fort.“) Dies wirkt sehr kindlich. Ich nehme daher an, dass die Kinder das siebte Jahr überschritten haben, wo sie laut Piaget vom magischen zum konkreten Denken übergehen und beginnen eigene Schlüsse zu ziehen und Fragen zu stellen. So fragt auch Lenchen gleich neugierig die alte Sanne, warum sie so viel Wasser ins Haus trägt.
Warum will die alte Köchin Fundevogel vernichten? Bildlich gesehen kommt Fundevogel als ein neuer Impuls in ein gut funktionierendes System. Die nährende, Altes bewahrende Köchin, der ausgleichend, regelnde Förster und das verjüngende Kind Lenchen. Dieses könnte immer so weitergehen, denkt die Köchin vielleicht, aber sie übersieht, dass Lenchen einen Partner braucht, dass etwas Neues hinzukommen muss, damit das System weiterbestehen kann. Fundevogel ist aber nicht  ein Königsohn, der sich mit Lenchen verbindet, sondern er scheint ein sehr machtvoller, spiritueller, magischer Impuls zu sein. Er hat Verbindung zur Vogelwelt und war auf einem hohen Baum in der Anderswelt.
Verständlich, dass die Köchin erschreckt, als Fundevogel dem Kleinkindsein entwächst und beginnt, ein eigenständiges Wesen zu entwickeln. Ich denke, dass wir das alle kennen: In ein bewährtes System, mit dem wir vertraut sind, kommt ein neuer umwälzender Gedanke. Zunächst wird er nur als Idee geduldet, aber wenn konkrete Änderungen geschehen, wächst in vielen Menschen Angst vor dem Neuen. Oft geschieht dies älteren Mitarbeitern, wenn in Betrieben Neuerungen eingeführt werden. Nicht selten zerbrechen Menschen auch seelisch daran. Es entsteht Wut und Hass, man versucht sich Verbündete im alten System zu finden, und das neue zu zerstören.
Dies tut auch die Köchin: Sie meint, in Lenchen noch eine Verbündete zu haben, und verrät ihren Plan. Sie nimmt Wasser,- das Element des Lebens und der Veränderung, und reichert es an mit dem Feuer des Hasses. Darin will sie Fundevogel kochen. Man könnte fast meinen, dass sie den neuen Impuls, den sie nicht ertragen kann, durch Kochen verdaulicher machen will.
Aber zum Glück kommt es nicht dazu. Lenchen fragt und Lenchen erhält die grausige Antwort.
Warum läuft sie nicht zu ihrem Vater und klagt die Köchin bei ihm an? Würde das nichts helfen?
Förster und Köchin gehören zusammen,- Werden und Vergehen im Zusammenspiel der Naturgesetze…
Nein, Lenchen muss selbst handeln und die erste schwere Aufgabe schafft sie gut: Sie schweigt und gibt ihre Gefühle, ihr Erschrecken, ja- Entsetzen! nicht preis! Ein schwere Aufgabe für ein Kind, die sogar mancher Erwachsener nicht meistern könnte.
Lenchen behält die Gefühlsregungen und Gedanken in ihrem Inneren für sich,- dies ist ein großer Entwicklungsschritt in der Kindheit, eine Abtrennung von der umgebenden Welt, ein erster Schritt in die Eigenverantwortung. Wie Piaget feststellte, gehen kleinere Kinder davon aus, dass ihre Gedanken auch in den Köpfen der anderen Menschen sind und sie diese nicht genauer verbalisieren müssen.
Aber warum handelt Lenchen nicht sofort, läuft zu Fundevogel und flieht mit ihm? Wohl, weil im Märchen Abend ist und sie nicht in der Nacht fortlaufen will. Sie erzählt Fundevogel auch erst in dem Moment davon, als es soweit ist und der Förster morgens fortgegangen ist, im Hier und Jetzt,- im rechten Moment!
Dass sie ihm davon erzählt, ist ein wichtiger und wertvoller pädagogischer Aspekt dieses Märchens. Es wird ein Versprechen gebrochen und es ist ganz richtig und wichtig, dass es gebrochen wird. Dem Bösen und zerstörerischen gegenüber ist keine Verpflichtung vorhanden. Lenchen teilt es Fundevogel („Ich will es dir nur sagen“), also demjenigen Menschen, dem sie am meisten vertraut. Wer weiß welche Hilfe so ein Märchen für Kinder sein kann, die sexuelle oder andere Übergriffe Erwachsener erleben müssen und zum Schweigen verdammt werden?
Im Märchen wird dann genau beschrieben, wie ein Plan erst in den Köpfen der Kinder entsteht und dann in die Realität umgesetzt wird. Es handelt sich um einen einfachen alltäglichen Ablauf. Aufstehen, anziehen und fortlaufen. Aber hier wird wieder auf liebevolle Weise gezeigt, wie das Denken für kleine Kinder noch ungewohnt und wie wichtig die alltäglichen Dinge noch sind, eben nicht zur Gewohnheit geworden.
Fundevogel und Lenchen sind, nachdem sie weggelaufen sind und den Schritt in die Eigenständigkeit gewagt haben, durch ihre innige Verbundenheit auf fast magische Weise stark! „Da sprach Lenchen zum Fundevogel: "Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht, so sprach der Fundevogel, "nun und nimmermehr."“ Dieser Satz beinhaltet in besonderer, nämlich einfacher Weise ausgedrückt, den tiefen menschlichen Wunsch nach Verbundenheit. Und im weiteren Verlauf des Märchens lernen wir, wozu tief und ehrlich verbundene Menschen fähig sind, oder, wenn man das Märchen als ein Seelenbild betrachtet, wozu ein Mensch fähig ist, der seine seelischen Kräfte liebevoll integriert hat.
Fundevogel und Lenchen haben ab jetzt immer den Überblick und sehen schon von weitem die drei Knechte nahen, die Lenchen zurückbringen sollen und Fundevogel vernichten. Es wird ab jetzt sehr deutlich, dass diese zerstörerischen Kräfte gar nicht mehr viel Macht haben. Die Knechte werden recht einfältig geschildert und sehen jeweils nur das oberflächliche der Welt, dringen nicht sehr tief vor („und sagten……..
sie hätten nichts in der Welt gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen oben darauf“). So werden sie von der Köchin gescholten und als Einfaltspinsel und Narren bezeichnet. Auch, als die alte Köchin sich selbst auf den Weg macht, kommt schon eine lächerliche Komponente hinzu („Die Kinder sahen aber die drei Knechte von weitem kommen, und die Köchin wackelte hintennach.“)
Lenchen und Fundevogel aber versichern sich ihrer Verbundenheit und verfügen dadurch über magisch- kreative Verwandlungskräfte. Dreimal geschieht eine Verwandlung mit ihnen und zwar in drei Bereichen: Natur (Rosenstöckchen und Röschen), Kultur im religiösen Sinne (Kirche und Krone darin) und in einem Ur- menschlichen Bereich (Ente und Teich), denn die Ente ist ein Urbild für die menschliche Seele und das Wasser ein grundlegendes, lebenspendenes Element.
In jeder Verwandlung bildet Fundevogel die Grundlage (Rosenstock, Kirche und Wasser) für die sich entfaltende, blühende, anbetende und lebende Seele Lenchen( Röschen, Krone, Ente).
Hier einige Zitate aus dem Symbollexikon von Leonhard Reiter (2014, S. 107): „Vormals war die Ente ein Begleittier der großen Mutter. Bei den Kelten war sie Ostara heilig und war in diesem Zusammenhang ein Sinnbild für die neue Fruchtbarkeit des Lebens und auch die Fähigkeit, das Wesentliche mit dem Herz und somit mit einer umfassenden Liebe zu erfassen.
In der Symbolik ist sie weiter ein starkes Sinnbild für die Seele selbst, da sie sich sowohl im Wasser, als auch in der Luft und auf der Erde bewegen kann.“
Die alte Köchin gewinnt im letzten Bild, obwohl sie lächerlich herangewackelt kommt, noch einmal eine übermächtig wirkende Größe, indem sie sich über den Teich wirft und ihn tatsächlich aussaufen will, also die Lebensgrundlage vernichten, bzw. sich selbst einverleiben will. Aber die kleine Ente hat überraschenderweise die Kraft, sie am Kopf ins Wasser zu ziehen. Sicher deshalb, weil sie sich auf dem Wasser sicher und geborgen weiß, während die Köchin sich nie mit dem Wasser verbunden hat, es immer nur als äußeres Element missbraucht hat. So kommt die Hexe in dem Element um, dass sie selbst im Kessel eingefangen hatte, um es zur Zerstörung Fundvogels zu benutzen.
Die Kinder bleiben in diesem Märchen noch Kinder und gehen nach Hause zurück. Lenchen hat sich in der tiefen Verbundenheit mit Fundevogel das errungen, was vorher in dem Försterhause so schmerzlich fehlte: Die allumfassende, schützende Liebe der Mutter.